Verdachtsmomente

Wie wird Geschichte geschrieben? Aufgrund von Informationen, die mündlich oder schriftlich überliefert werden. Zum Beispiel im Staatsarchiv Basel-Stadt. Dort lagern Hunderttausende von sogenannten Fichen, Karteikarten, mit deren Hilfe die politische Polizei 1938–1989 die ihr verdächtigen Personen und Organisationen überwachte. Dieser Aktenbestand ist praktisch unerforscht. Dabei birgt er Unerhörtes, Unglaubliches, Unschönes …

Ein paar Beispiele gefällig? In der Fiche von Karl Merian, Telefonmonteur, wurde anno 1952 festgehalten: Trotz seines guten Leumunds stehe Merian unter Verdacht, der PdA (Partei der Arbeit, Nachfolgepartei der Kommunistischen Partei) verraten zu haben, dass ihre Telefone abgehört würden. Er habe sich ja geäussert, die PdA sei eine anerkannte Partei, die Telefonkontrolle rechtfertige sich deswegen nicht. Die PdA stellte zu diesem Zeitpunkt übrigens etwa 10 Prozent der Mitglieder im kantonalen Parlament, gleich viel wie die Liberalen … Oder aus der Fiche von Maria Luchini [Name aus Datenschutzgründen geändert], die 1951 ein Einbürgerungsgesuch stellte: “eine Abweisung ist nach den neuesten Erhebungen nicht zu umgehen”. Was die “neuesten Erhebungen” ergaben hatten, ist nicht überliefert, doch zu erahnen. Denn auf der Fiche findet sich ein Eintrag aus dem Vorjahr, “Anzeige wonach sich die Eheleute […] über politische Belange äusserten, dass der Verdacht ihrer Sympathisierung mit der kommunistischen Ideologie naheliegend erscheine”. Oder auf der Fiche von Hans Löhner, Maschinist, wo im Januar 1952 ein Sachbearbeiter des Staatsschutzes notierte: “Eingeschriebener Brief des Löhner an den “Vorwärts”, die Zeitung der kommunistischen Partei der Arbeit (PdA): “Bestelle den “Vorwärts” auf 31.Dez.1951 ab, da ich von dieser Dreckpolitik von links oder rechts nichts mehr wissen will. Es wäre aussichtslos bei mir vorzusprechen.”

Mikroverfilmte Fiche aus dem Bestand des baselstädtischen Staatsschutzes.
Abb. 1: Mikroverfilmte Fiche aus dem Bestand des baselstädtischen Staatsschutzes.

Und so weiter und so fort: Die Fichen des baselstädtischen Staatsschutzes belegen, wie in der Zeit des Kalten Kriegs Verdachtsmomente dokumentiert und provoziert wurden. Was für Folgen ein solcher Eintrag hatte, ist selten konkret nachweisbar. Zwar lautete der Auftrag dieser polizeilichen Behörde, zuhanden der Strafverfolgung Beweise zu sichern und präventiv zu beobachten. Die Überwachungstätigkeit des Staatsschutzes entwickelte aber eine Eigendynamik und geriet zur alles umfassenden, globalen Verdachtsdokumentation. So finden sich darin neben Fichen zu sowjetischen Staatsführern auch solche zu Pablo Picasso und Charlie Spencer aka Charlie Chaplin.

Der Staatsschutz Basel-Stadt (bei seiner Gründung 1938 hiess er noch Politische Abteilung, später dann Spezialdienst) war schweizweit eine der grössten Behörden. Bis weit in die 1960er-Jahre hinein fokussierte er seine Arbeit einseitig auf das Gespenst der kommunistischen Unterwanderung. Als die Behörden um 1960 in ihrer Papierflut zu ersticken drohten, entsorgten sie kurzwegs eigenmächtig die Unterlagen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Zum Glück für die Forschung wurden wenigstens die Papierfichen vor der Vernichtung mikroverfilmt und blieben so erhalten. Rechtsextremismus schien kein Thema mehr zu sein, nur noch als Altlast. Wie es zum Beispiel der Ficheneintrag zu Dr. Möhring von 1951 zeigt: “Da es sich bei Möhring um einen ehemaligen prominenten Nazi handelt, wäre eine Einreisesperre s.Zt. am Platze gewesen. Von dieser Massnahme musste aber abgesehen werden, weil die Fa. Geigy aus wirtschaftlichen Gründen gegen diese Massnahme intervenierte. Lt. Dr. Balsiger [Leiter Bundespolizei, Anmerkung des Autors] werden nunmehr keine Einwendungen mehr gegen Möhring erhoben, obwohl derselbe unsympathisch bleibt.”

Die Publikation “Verdachtsmomente. Fichen und Dossiers aus dem Archiv des Staatsschutzes” von 2022 erlaubt einen kleinen Einblick in diesen bisher praktisch unerforschten Quellenbestand. Hier liegen riesige Mengen von Stoff für die Geschichtsschreibung. Selten geht es um spektakuläre Spionagefälle, um Landesverrat oder staatsfeindliche Aktionen. Meist handelt es sich um Verdachtsfälle – was erlaubt, die politische Kultur dieser Nachkriegszeit zu analysieren. Leider gibt es dabei ein paar ganz praktische Hürden. Ein umfassendes Verzeichnis der Akten ist nicht überliefert. Eine Teilerschliessung durch das Staatsarchiv ist geplant, sie konzentriert sich aus Ressourcengründen vorerst auf Personendossiers und den kleinen Bestand der Sach-/Organisationsfichen. Aus Datenschutzgründen muss jede Recherche sorgfältig geprüft werden. Dabei geht es nicht etwa um den Schutz von Staatsgeheimnissen, sondern um den Schutz der erwähnten Personen. Gerade auch, weil die Staatsschutzakten voll mit Unterstellungen, Vermutungen und Werturteilen sind.

Ganz ungeschrieben ist die Geschichte der politischen Kultur Basels in der Nachkriegszeit allerdings nicht. Sie existiert in einer besondern Form bereits – in der Version des Staatsschutzes. Durch die akribische Auflistung von Namen und Ereignissen in all den Fichen und Dossiers haben die polizeilichen Behörden eine Unmenge von Informationen über linke Parteien, Organisationen und Personen überliefert. Vermutlich mehr, als im Archiv der PdA selbst dokumentiert ist. Und obwohl davon nie etwas veröffentlicht wurde, hat diese Version der Schweizer Geschichte mit Sicherheit Generationen geprägt. Die auf Fichen und Dossiers notierten (vermeintlichen) Fakten prägten Amtshandeln, Medienberichte, politische Debatten und letztlich die kollektive Wahrnehmung. Höchste Zeit also, die Geschichte der politischen (Un)Kultur Basels nach 1945 erneut zu schreiben, aus wissenschaftlich-kritischer Perspektive diesmal. Einfach wird es nicht …

Quellen

Literatur

Daniel Hagmann (Hg.): Verdachtsmomente. Fichen und Dossiers aus dem Archiv des Staatsschutzes. Christoph Merian Verlag, Basel 2022.

Staatsarchiv Basel-Stadt, PD-REG 5a 3: Zentralkartei des Spezialdienstes, Filme der Zentralkartei (alte Signatur: C und Ca).

Abbildungen

Abb. 1: Staatsarchiv Basel-Stadt, PD-REG 5a 3-7 4, Dateinummer 7483

Autor*in

Daniel Hagmann ist Leiter der Abteilung Kommunikation und Vermittlung im Staatsarchiv Basel-Stadt und freiberuflicher Historiker