1000 Jahre -10 Geschichten Fromme Gangarten. Auf dem Münsterplatz im Mai 1799

Veröffentlicht am 12.11.2019, zuletzt geändert am 31.1.2024 #Neuzeit

1798 werden auf dem Münsterplatz in einem revolutionären Staatsakt Freiheitsbäume aufgestellt, ein Jahr später wird im heutigen Café Isaak der Zürcher Pfarrer Lavater als Gegner der neuen politischen Ordnung inhaftiert. Der sonntägliche Gottesdienst ins Münster geht seinen normalen Gang weiter, was dem Gefangenen ins Auge sticht.

Die Basler Gangart beim Kirchgang

Johann Caspar Lavater (1741–1801) beobachtet am 19. Mai 1799 am Fenster des Reischacherhofs, wo sich heute das Café Isaak befindet, wie sich Baslerinnen und Basler zum Gottesdienst ins Münster aufmachen. Lavater ist es als bekannter Physiognomiker gewohnt, aus dem äusseren Erscheinungsbild auf innere Wesenszüge zu schliessen – die Körperhaltung der Kirchgänger verrät ihm Folgendes über Basel: “Ich bemerkte im Ganzen weniger Ernst und Feyerlichkeit bey diesem Hingehen als bey uns [in Zürich] üblich […] Es schien vielmehr Zerstreutheit und weniger Gedankensammlung aus dem Gange der Meisten hervor zu leuchten.” Gleichzeitig konstatiert Lavater, dass “einzeln gehende Männer etwas gesetzter und gravitätischer in ihrem Gange waren, als es Männer von derselben Qualität in Zürich seyn mögen. Die Frauenzimmer aber hatten durchaus einen freyern Gang, ohne daß jedoch ein Verdacht der Uebelgezogenheit oder Frechheit auf sie fallen könnte.”

Ein Zürcher als Zeuge der Basler Umbruchszeit

Lavater ist 1799 kein neutraler Augenzeuge, was Körperhaltung und Geschlechterordnung in Basel betrifft – seit vier Tagen ist er erst in der Stadt, als Gefangener der Helvetischen Republik. Wie ist es dazu gekommen? Die Schweiz wird 1799 vom 2. Europäischen Koalitionskrieg heimgesucht, den Frankreich gegen Österreich und Russland führt; die politische Stimmung droht zu kippen, viele wünschen sich die alte Ordnung zurück. Die helvetische Regierung beschliesst in dieser brenzligen Situation, angesehene Bürger, die konterrevolutionär gesinnt sind, zu inhaftieren, um deren Zusammengehen mit Österreich und Russland zu verhindern. Als Haftort dient auch Basel, das sich dank Peter Ochs den Ruf einer revolutionsfreundlichen Stadt erworben hat.

Porträt Lavaters, gezeichnet durch den französischen General Mangin am 3. August 1799 in Basel
Porträt Lavaters, gezeichnet durch den französischen General Mangin am 3. August 1799 in Basel. Bild: Zentralbibliothek Zürich

Die Gefangennahme Lavaters verwundert. Der Zürcher Pfarrer ist ein offener Geist, er diskutiert in gelehrten Gesellschaften über neue Staatsideen, zudem zeigt er anfänglich Sympathien für die Französische Revolution. Allerdings hat ihn die politische Gewalt ab 1792 ins Lager der Revolutionsgegner getrieben. Auch gegenüber der Helvetischen Republik, die am 12. April 1798 als erster Einheitsstaat der Schweiz ausgerufen wird, äussert Lavater bald Enttäuschung: Schon im Mai beklagt er im “Wort eines freyen Schweizers an die große Nation” den französischen Raubzug auf Schweizer Gelder und die skrupellose Besetzung des Landes. Mit Predigerton hält er fest: “Noch sind wir Sklaven – Sklaven, wie wir nie waren!” Damit hat Lavater den Ruf als Revolutionsfeind auf sicher.

Zeichnung: Die Stadt feiert am 22. Januar 1798 vor dem republikanisch beflaggten Münster unter einem Freiheitsbaum die Gleichstellung mit der Landschaft
Die Stadt feiert am 22. Januar 1798 vor dem republikanisch beflaggten Münster unter einem Freiheitsbaum die Gleichstellung mit der Landschaft. Historisches Museum Basel, Foto: P. Portner

Die vielen politischen Gesichter Basels

Als Staatsgefangener lebt Lavater vergleichsweise gut: Er erhält ein eigenes Zimmer am Münsterplatz, wo ihn Basler Bekannte – Pietisten, Pfarrer, Kunstliebhaber – besuchen und mit Geschenken erfreuen. Unter ihnen Jakob Sarasin, der reiche Basler Seidenfabrikant, mit dem Lavater schon lange korrespondiert, oder Johann Rudolf Huber, Pfarrer in Riehen, der die Ansichten des Gefangenen in seinem “Sonntagsblatt” veröffentlicht. Aber auch Anhänger der Revolution erweisen Lavater die Ehre, so Peter Vischer-Sarasin, der Präsident des Basler Kantonsgerichts, oder der Müller Johann Jakob Schäfer aus Seltisberg, ein Mitglied der Baselbieter Verwaltungskammer. Alte und neue Eliten gehen bei Lavater im Reischacherhof ein und aus: Man lebt in Basel Tür an Tür mit unterschiedlichen politischen Ansichten, nicht zuletzt wegen vielen verwandtschaftlichen Beziehungen, die man in der Helvetik nicht einfach aufkündigt.

Im August 1799 ist Lavater zurück in Zürich und rekapituliert sein Exil in den “Freymüthigen Briefe über das Deportationswesen”. Diese Briefe zeigen uns einen Zeitgenossen, der im persönlichen Umgang ein offenes Ohr für Revolutionsfreunde und -gegner hat: Von Angesicht zu Angesicht findet Lavater leicht zu einer gemeinsamen Verständigung. Für die Anliegen der politischen Masse aber hat Lavater weder Gespür noch Worte: Er spricht hier nur vom Handeln eines gesichtslosen Kollektivs, des “Pöbels”, womit er das Schlagwort aufgreift, mit dem die damaligen Machthaber ihre Angst vor den neuen Bürgerinnen und Bürgern ausdrücken. Aus diesem Pöbel entsteht dann im 19. Jahrhundert eine demokratische Bevölkerung. Das aber dauert länger als einen Mai – ähnlich lang wie die Änderung der Basler Gangart beim Kirchgang …

Quellen

Literatur

Literatur: Johann Caspar Lavater: Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe. Band VIII: Patriotische Schriften 1798–1801. Hg. von Dominik Sieber, Zürich 2015

Abbildungen

Abb. 1: Porträt Lavaters (Ausschnitt), «ausßgezeichnet Samstags d[en] 3. VIII. 1799 in Basel von dem französischen General Mangin. L.[avater]». Zentralbibliothek Zürich, FA Lav. Ms. 571.164

Abb. 2: Vereinigungsfeier auf dem Münsterplatz. Historisches Museum Basel, Foto: P. Portner

Autor*in

Dominik Sieber studierte Geschichte und Germanistik in Basel und Berlin. Er ist engagiert für das buchstäblich Exakte und das Publikumswirksame – als Editor und Archivar, in Stadtgeschichten (Rheinfelden), im Museum (Brugg). Sein historisches Interesse wechselt zwischen Kollektiv und Individuum: Von den Volkskulturen im frühneuzeitlichen Luzern zu Selbstzeugnissen, von der Menschenrechtsdebatte der Helvetik zum Austausch mit den KollegInnen der Basler Gegenwart, ohne den jede Erkenntnis Stückwerk bleibt. Er ist Herausgeber von Band 5 (1760-1860) der neuen Basler Stadtgeschichte.