Von “Wohnmaschinen” und “Kommunistenzüchtereien”
Die Schweizerische Wohnungsausstellung, kurz WOBA, sorgte 1930 für Gesprächsstoff. Während die einen die Fortschrittlichkeit der weissen Flachdachbauten lobten, empfanden andere diese kargen “Wohnmaschinen” als “unschweizerisch” und vermuteten kommunistische Machenschaften am Werk. Anlässlich der WOBA bündelten sich in der Schweizer Presse Diskussionen über die Frage nach der Zukunft der Gesellschaft – den Frauen kam dabei eine Schlüsselrolle zu.
In den Schorenmatten
Wir schreiben das Frühjahr 1930. Es herrscht emsiges Treiben hinter dem Badischen Bahnhof: Paletten mit Holz werden angekarrt, Ziegelsteine aufgestapelt, Zementsäcke angeschleppt. Kürzlich erst haben die ersten Genossenschaftler*innen In den Schorenmatten Quartier bezogen. Zweimal mussten die Basler Stimmbürger den Gang zur Urne machen, bis endlich die öffentlichen Gelder für den Bau bewilligt wurden. Auf die Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg, bei der allein in Basel um die 300 Familien obdachlos waren, reagierte der Kanton mit staatlich subventioniertem Wohnungsbau. Eine neu erprobte Massnahme, die den Bürgerlichen und Hausbesitzern schon lange ein Dorn im Auge war. Nicht nur wurden so die Mietzinse herabgedrückt, nein – jetzt waren es erst noch kalte, abweisende Flachdachbauten, anstelle der heimeligen Steildachhäuschen wie im nahe gelegenen Hirzbrunnenquartier.
Wohnraum für alle
Auch die Siedlung, die jetzt gerade im Entstehen begriffen war, verhiess nichts Gutes. Musterhäuser sollten hier entstehen für die Schweizerische Wohnungsausstellung – kurz WOBA. Inspiriert von der Weissenhofsiedlung in Stuttgart, erbaut 1927, sollte auch in Basel eine Ausstellungssiedlung hochgezogen werden. In Deutschland hatte die crème de la crème der damaligen Architekturavantgarde ihre Vision des zukünftigen Wohnens der Weltöffentlichkeit präsentiert, im Stil des Neuen Bauens. Im Unterschied zu Stuttgart waren in Basel jedoch keine künstlerischen Entwürfe gefragt. Vielmehr stand die Wohnung für das Existenzminimum als neue Bauaufgabe im Zentrum, sprich – die Wohnung für die Massen.
Gesellschaft entsteht
Dass sich eine junge Generation von Architekten mit diesem Problem befasste, ist wenig überraschend. In der Aufbruchsstimmung der Nachkriegsjahre formulierten sie ihr Selbstverständnis als Experten aus einer gesellschaftlichen Notwendigkeit heraus. Im Duktus der Technikbegeisterung, die in der Zwischenkriegszeit so richtig Fahrt aufnahm, sollte die Industrialisierung des Bausektors erschwinglichen Wohnraum für alle ermöglichen. Hans Schmidt, der für die Eglisee-Siedlung mit seinem Büropartner Paul Artaria eine der radikalsten Lösungen entwarf, gehörte in den 1920er Jahren zur Avantgarde einer linken Moderne in der Schweiz. Mit seinen Mitstreitern gründete er 1924 die Zeitschrift “ABC. Beiträge zum Bauen”. Es ist kein Zufall, dass das letzte Heft der Serie von den Parolen “ABC fordert die Diktatur der Maschine” und “ABC kämpft gegen das bürgerliche Zeitalter!” gerahmt wurde. Hier sollte nicht nur eine neue Architektur entstehen, sondern durch Architektur eine neue Gesellschaft geschaffen werden.
Neue Wohntypen
Anspruch der Architekten der WOBA-Siedlung war es deshalb, nicht lediglich das bürgerliche Wohnhaus zu verkleinern, sondern einen gänzlich neuen Wohntypus zu entwerfen. Als Inspiration diente die Rationalisierung in der modernen Industrie. So wurden Wohnung und Mobiliar als Einheit gedacht, als sich ergänzendes Gesamtkonzept, dem Leben des modernen Menschen angepasst. Typisierung und Standardisierung waren die Schlagworte, unter denen Schlafzimmer, Wohnzimmer und Küche revolutioniert wurden. Insbesondere sollte die moderne Wohnung von der “guten Stube”, dem Inbegriff bürgerlicher Wohnkultur, befreit werden. Am provokativsten ist der Grundriss bei dem Haus von Schmidt und Artaria, wo sich hinter der Wohnungstür direkt die Küche befindet – ein Gast betritt den Wohnraum also über die Diensträume.
Die WOBA in der Presse
In der zeitgenössischen Schweizer Presse wurde die Basler Wohnkolonie kontrovers diskutiert. Das Neue Bauen wurde zur Projektionsfläche für gesellschaftliche Visionen und Ängste – befeuert von der Überzeugung, Architektur könne die Menschen verändern. Zum Stein des Anstosses wurden insbesondere die geringe Grösse der Häuser und die Gleichförmigkeit der Einrichtung. In einer solchen “Wohnmaschine” sei kein Platz mehr für Individualität und für die Entwicklung von Persönlichkeit, hiess es aus konservativen Kreisen – wie könne der Mensch bei solcher “Gleichmacherei” nur selber denken. Die “Solothurner Zeitung” vermutete hinter dieser neuen Form von Architektur gar kommunistische Machenschaften: “Das ist das Ideal marxistischer Wohnkultur. […] Die Einheit der Familie wird systematisch zerstört, aufgebaut werden soll das kommunistische Ideal. Das Mittel dazu liefern diese Wohnkolonien.” Das Neue Bauen als marxistischer Frontalangriff auf die Kernfamilie und damit auf die Keimzelle der westlich-demokratischen Gesellschaft.
Das neue Wohnen der Frauen
Trotz Marxismusverdacht blieb die Wohnkolonie auch in konservativen Kreisen anschlussfähig – insbesondere aus familienpolitischer Sicht. Die Wohnungsreform, behauptete der von der WOBA veröffentlichte Artikel “Eheflucht und Wohnungsreform”, komme insbesondere der modernen Frau zugute. Denn die Ehe verlange viel von der Frau, zu viel. Sie sollte Hausfrau, Mutter und werktätig sein – eine Mehrfachbelastung, die den Mann nicht betreffe. Das Haushalten müsse deshalb einfacher und schneller werden. Eine kleine Wohnung bedeute weniger Arbeit, was sich insbesondere auf das Eheleben positiv auswirke: “Das neue Wohnen kennt kein Abhetzen der Frau; eine abgehetzte Frau aber ist stets übler Laune, sie fesselt den Mann nicht.” Der Artikel kommt nur scheinbar progressiv daher, die Zuständigkeit der Frauen für den Haushalt wird nicht grundsätzlich infrage gestellt. Die Wohnungsreform, die darin gefordert wird, zementiert vielmehr den Platz der Frauen am Herd – auch wenn dieser Herd das modernste und neuste Modell auf dem Markt ist.
Frage des Wohnens als Stellvertreterdiskussion
Die Diskussion um die Wohnung und ihre angemessene Einrichtung wurde zum Schauplatz einer fundamentalen Auseinandersetzung um die Frage der Zukunft der Gesellschaft. Den Frauen kam dabei eine Schlüsselrolle zu. Zuständig für das Private, für die Familie war es ihre Aufgabe die nächste Generation von Staatsbürger*innen heranzuziehen. Die seit der Industrialisierung als chaotisch begriffene Gegenwart machte sich in einer diffusen Angst vor der Auflösung der Gemeinschaft bemerkbar und zwang die Architekten zum Handeln – da war man sich über die politischen Lager hinweg einig. Über die Wohnung verschafften sich diese Experten Zugriff auf das Private und verwischten so die sorgsam gehütete bürgerliche Trennung von privat und öffentlich. Und genau darin liegt die explosive Sprengkraft dieser Experimentalbauten. Als “unschweizerisch” wurde die WOBA-Siedlung gebrandmarkt, als “Proletarierzuchtanstalten” und “Kommunistenzüchtereien” geschimpft.
Und heute?
Machen wir uns heute auf den Weg zur WOBA-Siedlung, können wir uns buchstäblich ins Jahr 1930 zurückversetzen lassen: Ausgestattet mit zeitgenössischem Mobiliar und als Museumshaus für die Öffentlichkeit zugänglich, lädt das Haus von Hans Schmidt und Paul Artaria am Im Surinam 126 ein, in den Geist der WOBA abzutauchen (www.ein-haus-woba.ch). Über die Küche betreten wir das Häuschen – ein Paradies auf 45 m2 für eine Familie mit zwei Kindern, inklusive Garten zur Selbstversorgung und Spielen an der frischen Luft. Lassen wir noch einmal die hitzigen Diskussionen rund um die WOBA Revue passieren, wird uns bewusst, wie eng gesellschaftspolitische Diskurse und die Gestaltung des urbanen Raums miteinander verschränkt waren – und, mit Blick in die Tageszeitungen, noch immer sind.
Dieser Blogbeitrag ist eine gekürzte und angepasste Fassung des Artikels “Neues Häuschen, neuer Mensch” erschienen in der WOZ (Nr. 21/2019), am 23.05.2019.
Quellen
Abbildungen
Übersichtsplan zur Ausstellungs-Siedlung während der Woba, 1930: WOBA. Führer durch die Ausstellungs-Siedlung Eglisee. In: Prospekte Ausstellungsführer, Ausstellungen B77. Basel: Schweizerisches Wirtschaftsarchiv, S. 1.
Slider Abb. 1: Strassenseite des Haus von H. Bernoulli und A. Künzel (Block 10): WOBA-Siedlung Eglisee, 1930. Block 10, Hans Bernoulli, August Künzel. Strassenseite. Foto Robert Spreng, Archiv Wohngenossenschaft Eglisee.
Slider Abb. 2: Gartenseite des Haus von H. Bernoulli und A. Künzel (Block 10): WOBA-Siedlung Eglisee, 1930. Block 10, Hans Bernoulli, August Künzel. Gartenseite. Foto Ochs-Walde, Archiv Wohngenossenschaft Eglisee.
Slider Abb. 3: Wohnzimmer im neu renovierten Haus von Paul Artaria und Hans Schmdit (Block 8): Wohnzimmer des Museums-Projektes. Block 8, Paul Artaria, Hans Schmidt. Foto Ursula Häne.
Autor*in
In Moskau hat Rhea Rieben ihre Faszination für Architektur entdeckt und beschlossen im Rahmen ihrer Dissertation sich darin zu vertiefen. Den Blick vom Trottoir weg auf die Häuserzeilen zu richten und sich zu fragen, wie Gesellschaft mit Architektur verbunden ist, dieser Frage widmet sie sich in Basel, wie auch in Städten weiter östlich. Sie ist Projektassistentin am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte und unterrichtet hier.