Schüler aller Länder vereinigt euch!
“Mögen die herrschenden Lehrer vor der Revolution zittern. Die Schüler haben nichts zu verlieren als ihre Ketten” – so der Aufruf auf einem Flugblatt der späten 1960er-Jahre am Realgymnasium Basel. Das “Manifest des 5. Standes” – Ironie oder Ernst? Auf alle Fälle eine Provokation für die Lehrerschaft.
Das Manifest des 5. Standes
“Mögen die herrschenden Lehrer vor der Revolution zittern. Die Schüler haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Schüler aller Schulen vereinigt euch!!!” Unerhörtes war auf einem Flugblatt zu lesen, das an einer Maturfeier in den späten 1960er Jahren im Realgymnasium verteilt worden war, und den Titel “Manifest des 5. Standes” trug. Ein ironisches Spiel mit dem Kommunistischen Manifest, das hier Pate stand? Revolutionärer Ernst? Wir kennen weder die Autoren noch die unmittelbare Reaktion auf das Schreiben. Dass es männliche Jugendliche waren, können wir jedoch mit Sicherheit annehmen, denn das Realgymnasium war damals eine Knabenschule.
Das Realgymnasium war 1930 gegründet worden. Die Stadt Basel hatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einerseits eine Bevölkerungszunahme zu verzeichnen, andererseits führte aber auch eine gesellschaftliche Veränderung zu einer Zunahme der gymnasialen Schülerschaft: Nicht nur die Kinder der Eliten, auch Kinder aus “bildungsfernen” Familien entschieden sich vermehrt für eine gymnasiale Ausbildung, um dann ein Universitätsstudium zu absolvieren. In diesem Sinne ist Schule ein Spiegel der gesellschaftlichen Mobilität.
Rebellion gegen die helvetische Behaglichkeit
Aber nicht nur das: Schüler*innen reagierten auch auf angestaute Zeitprobleme. Die Schweiz hatte den Zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschadet überstanden und zelebrierte sich seither gerne als Sonderfall. Das Jahr 1968 erschütterte diese Selbstsicherheit. Viele junge Menschen empfanden ein tiefes Unbehagen gegenüber der satten Wohlstandsgesellschaft. Sie rebellierten, indem sie lange Haare trugen, Rockmusik hörten oder aus der bürgerlichen Familie in neue Wohn- und Lebensgemeinschaften “ausstiegen”.
Von der englischen Versuchsschule “Summerhill” ausgehend, durchbrach das Schlagwort von der “antiautoritären Erziehung” die helvetische Behaglichkeit. Politische Diskussionen drehten sich um Alternativen zur liberalkapitalistischen Wirtschaftsordnung. Die Bezugnahme auf Marx lag daher nahe. Karl Marx gehörte zu den Ikonen der 68er-Bewegung.
Zu den politischen Kampfmitteln der Jugendlichen gehörten Demonstrationen verschiedenster Art, von Umzügen mit Transparenten und Sprechchören über “Sit-ins” auf Tramgeleisen oder in Amtshäusern bis zu Störungen des Lehrbetriebs in Universitäten und Schulen. Träger der 68er-Bewegung waren vor allem Studierende und Schüler*innen. Die Schule stellte einen wichtigen Schauplatz der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen dar.
Schule als Schauplatz gesellschaftlicher Veränderungen
Dass sich die ältere Generation durch die Proteste der Jugendlichen stark angegriffen fühlte, zeigt unter anderem die Reaktion der Lehrerschaft am Realgymnasium auf das eingangs erwähnte Flugblatt. Ein Lehrer beschrieb die Schüler der 1960er Jahre so: “Leider zieht der eine oder andere das Herumlungern mit schmuddeliger Kleidung und Neandertalerfrisur in Spielsalon, Kino und Gastgewerbe dem spiessig-fleissigen Versauern in der Studierstube vor. Gymnasiast oder Clochard?”.
Und: “Vom Sog der 1968 beginnenden Studentenrevolte erfasst, gab sich der in den höheren Klassen sitzende Durchschnittsschüler der späten 60er Jahre gelangweilt, gleichgültig und distanziert. Er neigte zur Apathie und Minimalismus. Er war kritisch, stellte alles in Frage und gefiel sich in Disziplinlosigkeiten. Dazu kam die Agitation von aussen; von den Vorgängen an den Hochschulen Frankreichs und Deutschlands aufgeputscht, begannen auch unsere Schüler, Anspruch auf Mitbestimmung und “Demokratisierung” zu erheben”.
Ironie? Auf alle Fälle Provokation
Das “Manifest des 5. Standes” ist als typisches Dokument der Jugendrebellion im Zuge von 1968 zu verstehen. Die Bezugnahme auf Marx ist bedeutsam: Mit der Bezeichnung “5. Stand” stellte sich die Schülerschaft hinter den “4. Stand”, mit dem im 19. Jahrhundert das Industrieproletariat bezeichnet wurde. Das “Manifest des 5. Standes” kritisierte zudem die eigene Gesellschaft als undemokratisch. Es setzte die Lehrpersonen mit der herrschenden Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts gleich und stellte Forderungen, die heute befremdlich wirken können: “Die Schüler wählen ihre Lehrer selbst. Die Schüler erhalten eine angemessene Besoldung. Rektor und Lehrerschaft haben sich strikte an die Weisungen von Schülerräten zu halten”. Man kann sich daher fragen, ob eine Ironisierung betrieben wurde. Wie dem auch sei – die Reaktionen der Lehrerschaft zeigen, dass das Schülermanifest nicht bloss als Scherz, sondern als Provokation empfunden wurde.
Quellen
Literatur
Peter Appel u. a. (Hrsg.), 50 Jahre Realgymnasium Basel (Basel, 1980).
Ueli Mäder, 68 – was bleibt? (Zürich 2018).
Linda Stibler, Fünfzig Jahre nach 1968 – ein Jubiläum? Basler Stadtbuch 2018 (Basel 2018).
Abbildungen
Abb. 1 (Schülermanifest): Peter Appel u. a. (Hrsg.), 50 Jahre Realgymnasium Basel (Basel, 1980).
Abb. 2 (Sit-in 1969): Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1013 1-4144 1.
Abb. 3 (Schüler rauchend): Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1013 1-5965.
Abb. 4 (Teach-in 1968): Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1013 1-3753 1.
Autor*in
Antonia Schmidlin ist freischaffende Historikerin und unterrichtet Geschichte und Italienisch am Gymnasium Liestal. Sie ist Autorin verschiedener Publikationen zur Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, zur Geschlechtergeschichte und zur Basler Regionalgeschichte. Sie ist Vorstandsmitglied des Vereins Basler Geschichte.