Kinder in der spätkeltischen Siedlung Basel-Gasfabrik

Veröffentlicht am 2.9.2019, zuletzt geändert am 31.1.2024 #Römische Zeit und Spätantike

Urgeschichtliche Gesellschaften waren junge Gesellschaften, in denen Kinder und Jugendliche die Mehrheit bildeten. In der Archäologie wurde diese Tatsache lange ignoriert. Die Frage, wie Kinder und Jugendliche lebten, wird erst seit Kurzem gestellt. Sie zu beantworten, ist allerdings schwieriger als gedacht.

In der Siedlung scheinbar unsichtbar

Am linken Rheinufer, auf dem Areal der ehemaligen Gasfabrik, entwickelte sich spätestens ab 150 bis um 80 v. Chr. eine grosse, stadtartige Siedlung. Seit ihrer Entdeckung im Jahr 1911 wird sie archäologisch untersucht, so dass heute unzählige Bodenstrukturen und Hunderttausende von Funden bekannt sind. Doch was sagen diese Quellen über das Leben von Kindern?

Sucht man nach dem, was wir in der heutigen materiellen Kultur mit Kindern verbinden – z.B. Babyfläschchen, Spielzeug, Kinderkleidung, Kinderzimmer, Spielplätze oder Schulen – ist die Ausbeute ernüchternd: Sie beschränkt sich im Wesentlichen auf zwei Fingerringe in Kindergrösse. Die wenigen kleinen Keramikgefässe, die als “Kindergeschirr” in Betracht kommen, könnten auch andere Funktionen gehabt haben, und Kinderkleidung ist nicht erhalten.

Ein Fingerring in Kindergrösse
Die einzigen Funde aus dem Siedlungsareal, die eindeutig auf Kinder hinweisen, sind zwei Fingerringe in Kindergrösse. Interessant ist, dass dieses Exemplar auf Kindergrösse zurechtgebogen wurde (Foto: Michael Wenk, Archäologische Bodenforschung Basel-Stadt).

Die scheinbare Unsichtbarkeit von Kindern in urgeschichtlichen Siedlungen ist ein gängiges Phänomen. Es beruht vor allem auf einem falschen Suchmuster, das auf heutigen Vorstellungen von Kindheit beruht. Das Aufwachsen von Kindern gestaltete sich in der Urgeschichte offensichtlich sehr anders als heute. Wie es gewesen sein könnte, zeigen Forschungen zu historischen und aussereuropäischen Gesellschaften. Vor ihrem Hintergrund ist auch für die Urgeschichte anzunehmen, dass bereits kleine Kinder sich ihrem Alter entsprechend und häufig spielerisch an den Alltagstätigkeiten beteiligten: “Kinderzimmer”, “Spielplatz” und “Schule” war folglich der “Arbeitsplatz” der Älteren. Auf diese Weise dürften sie schon früh in Aufgaben und Verantwortlichkeiten hineingewachsen sein. Deshalb leistete man in der Urgeschichte wahrscheinlich wesentlich früher einen substantiellen Beitrag zur Bewältigung der anstehenden Arbeiten und war deutlich früher “erwachsen” als heute. Die Produkte dieser Arbeit sind im archäologischen Fundgut enthalten – wir müssen nur lernen, sie zu erkennen.

Gräber: Aufschlüsse über die Lebensbedingungen von Kindern

Einen unmittelbaren Zugang zu Kindern stellen hingegen ihre sterblichen Überreste dar. Von Basel-Gasfabrik sind zahlreiche Bestattungen bekannt. Sie stammen von zwei Friedhöfen, wo Kinder in gleicher Weise wie Erwachsene beerdigt wurden. Weitere Bestattungen, darunter auch Föten und Neugeborene, wurden im Siedlungsareal entdeckt. Für die Kinder sind – wie auch für die Erwachsenen – vielfältige Bestattungsweisen belegt.

Kinderskelette in einem Grab
Von Basel-Gasfabrik sind zahlreiche Kinderbestattungen bekannt. Besonders aufschlussreich sind naturwissenschaftliche Untersuchungen der Skelette. So zeigen Isotopenanalysen, dass überraschend viele Kinder einen Ortswechsel vollzogen haben. Dieses Ergebnis wirft neue Fragen über Mobilität in der spätkeltischen Gesellschaft – und nicht zuletzt über Kindheit in der damaligen Zeit auf (Foto: Adrian Jost, Archäologische Bodenforschung Basel-Stadt).

Paradoxerweise sind es ausgerechnet die sterblichen Überreste, die am konkretesten über die Lebensbedingungen informieren. Besonders aufschlussreich sind die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Analysen. So hat die anthropologische Untersuchung der Skelettreste gezeigt, dass die Sterblichkeit der unter 14-Jährigen bei etwa 60% lag und Kinder bis zum 4. Lebensjahr besonders gefährdet waren. Die hohe Kindersterblichkeit dürfte in erster Linie auf Infektionskrankheiten und das Fehlen geeigneter Kindernahrung zurückzuführen sein. Für Letzteres sprechen auch die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Analysen, die ergaben, dass Kinder im Alter zwischen 1,5 und 4 Jahren abgestillt wurden.

Während die Ergebnisse zu Kindersterblichkeit und Abstillalter im bekannten Rahmen liegen, war der Nachweis, dass viele der Bestatteten in ihrer Kindheit einen Ortswechsel vollzogen haben, eine grosse Überraschung. Dahinter könnte stehen, dass Kinder mit ihren Angehörigen aus der Umgebung in die sich zu einem regionalen Zentrum entwickelnde Siedlung gezogen sind. Sie könnten aber auch selbständig unterwegs gewesen sein, beispielsweise um Vieh zu hüten. Für die spätkeltische Zeit ist ausserdem in Betracht zu ziehen, dass Kinder als Sklaven, Geiseln oder um etwas Spezielles zu lernen, den Ort gewechselt haben. Auch Kindspflegschaften kämen in Frage – ein Phänomen, das aus vielen Gesellschaften bekannt ist und neuerdings auch in den Fokus der archäologischen Forschung gelangt.

Die neuen Ergebnisse zu Basel-Gasfabrik werfen ein völlig neues Licht auf Kindheiten in spätkeltischer Zeit. Zugleich machen sie bewusst, dass die Kinder als gesellschaftliche Mehrheit in die Rekonstruktion historischer Entwicklungen einbezogen werden müssen.

Quellen

Publikationen

Pichler, S., Rissanen, H., Spichtig, N. (2015) Ein Platz unter den Lebenden, ein Platz unter den Toten: Kinderbestattungen aus dem latènezeitlichen Fundplatz Basel-Gasfabrik. In: R. Kory (Hg.), Lebenswelten von Kindern und Frauen in der Vormoderne, 257-273.

Rissanen, H., Pichler, S., Spichtig, u. a. (2013) „Wenn Kinder sterben…“ – Säuglinge und Kleinkinder vom latènezeitlichen Fundplatz Basel-Gasfabrik (Kanton Basel-Stadt, Schweiz). In: S. Wefers (Hg.), Räume – Rollen. Beiträge zur gemeinsamen Sitzung der AG Eisenzeit und der AG Geschlechterforschung während des 7. Deutschen Archäologenkongresses in Bremen 2011. Langenweissbach, S. 127-142.

Rissanen, H., Alder, C. (2011) Kurz gelebt und reich bestattet. Jahresbericht der Archäologischen Bodenforschung Basel-Stadt 2010. Basel, S. 125-157.

Röder, B. (2017) Die vergessene Mehrheit der Bevölkerung: Kinder, Frauen und alte Menschen. In: B. Röder (Hg.), Lebensweisen in der Steinzeit. Archäologie in der Schweiz. Baden, S. 26-29.

Röder, B. (2014) Spurlos verschwunden? Kinder und Heranwachsende in archäologischen Quellen. Archäologie in Deutschland, 1 Dezember, S. 20-23.

Autor*in

Brigitte Röder ist Professorin für Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie an der Universität Basel. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Sozial-, Geschlechter- und Kindheitsgeschichte.