Eine Avantgardistin auf Schritt und Tritt – die Tänzerin und Tanzpädagogin Katja Wulff
Nach Aufenthalten in Zürich und Capri lässt sich die gebürtige Hamburgerin Katja Wulff 1923 in Basel nieder und gründet ihre eigene Tanzschule. Sie arbeitet mit vielen Exponent*innen der progressiven Kunstszene zusammen und bildet Generationen von Tänzer*innen aus. Katja Wulff ist eine der Wegbereiterinnen des modernen Tanzes in Basel.
Alles andere als klassisch
Die Scheinwerfer gehen an und richten sich auf die Bühne. In den Publikumsreihen grummelt es. Am Morgen des 27. Februar 1927 ist man im Theater Basel besonders gespannt auf das, was heute auf dem Programm steht. Angekündigt ist eine Aufführung, die alles andere als klassisch ist: Die Tanzgruppe Wulff tanzt zur Musik des italienischen Komponisten Alfredo Casella, begleitet von Paul Sacher und seinem Kammerorchester. Ein Ballett kann es nicht sein, das ist schon im Programmheft zu erkennen, aber was ist es dann?
Tänzerinnen, die aus der Reihe tanzen, sind in Basel nicht ganz unbekannt. 1919 gastierte die Amerikanerin Isadora Duncan in der Stadt, der Rezensent der Basler Nachrichten bezeichnete sie als “Schöpferin des modernen Tanzes”. Duncan tanze Seele, schreibt er, und das Resultat sei Ausdruck. Zudem hat man 1927 auch in Basel bereits von Josephine Baker vernommen, die im Revuetheater Folies-Bergère in Paris unglaublich geschwind den Charleston tanzt und dabei nichts als ein Bananenröckchen trägt. Aber das ist die Welt des Variétés und die verstösst ohnehin gegen den guten Ton.
Weg mit dem alten Zopf
Vom frivolen Paris und vom Charleston ist Katja Wulff weit entfernt, aber sie bricht ebenso gnadenlos mit den bürgerlichen Sitten und entspricht ungefähr dem Bild, das wir von einer “Bohemienne” haben. Bereits früh verlässt sie ihr Elternhaus in Hamburg, um sich dem freien Tanz zu widmen, experimentiert mit verschiedenen Kunstformen, bleibt lange ungebunden und nimmt immer wieder auch Geldnot in Kauf, um keine Kompromisse machen zu müssen.
In Basel lebt “Käthe” Wulff – wie sie unter Freunden genannt wird – lange in “wilder Ehe” mit dem Schauspieler und Regisseur Charles Ferdinand Vaucher, welcher der Kommunistischen Partei angehört. Ihr Haar trägt sie selbstverständlich kurz und das bereits vor den Wilden Zwanzigern. 1917 schreibt sie an ihre Schwester, dass sie wie erlöst sei, seit es “runter ist; es ist sogar so, dass ich mich besser bewege. Ausserdem geht das kurze Haar, so wie ich es nun trage, gut zu einem grossen Teil meines Wesens.”
Suche nach dem “Neuen Menschen”
1927, im Jahr des unkonventionellen Debüts im Stadttheater, lebt Wulff bereits seit vier Jahren in Basel und hat ihre eigene Tanzschule, die Basler Labanschule für Laienschüler und Berufsbildung. Ausgebildet hat sie sich ab 1914 beim Tanzguru Rudolf von Laban, der auf dem Monte Verità Sommerkurse gibt. Der legendäre Hügel bei Ascona ist ein Eldorado für Anhänger*innen einer naturgemässen Lebensführung. Dort treffen sich Kreative aller Art, Sonnenanbeterinnen, Nudisten, Vegetarierinnen und Querdenker aus ganz Europa. Was sie vereint, ist die Suche nach alternativen Lebens- und Arbeitsformen, die Suche nach dem “Neuen Menschen”.
Rudolf von Laban propagiert eine Tanzform, die keine starren Formen kennt und sich von der Musik frei macht. Der Tanz soll das innere Erleben der Tänzerin ausdrücken. Deshalb spricht man in der Zeit seiner Entstehung auch von expressionistischem oder freiem Tanz. Später etabliert sich die Bezeichnung Ausdruckstanz. Getanzt wird in loser Kleidung und barfuss. Auf dem Monte Verità lernt Katja Wulff die freien Tänzerinnen Mary Wigman und Suzanne Perrottet kennen, mit der sie 1918 in Zürich die Schule für Eurythmie gründet. Um sich von der Eurythmie des Anthroposophie-Begründers Rudolf Steiners abzugrenzen, taufen sie die Schule später um.
Eine “Heldin Dadas”
Schon in ihren Zürcher Jahren zeigt sich Wulff offen gegenüber anderen künstlerischen Sparten. Sie arbeitet oft mit den Dadaist*innen zusammen, die ihrerseits mit Formen des freien Tanzes experimentieren. Hans Arp und Sophie Taeuber, die ebenfalls an Laban-Kursen teilnimmt, führen sie in die Dada-Szene ein, die im Cabaret Voltaire verkehrt. Hans Arp bewundert Katja Wulff für ihren Gleichmut, mit dem sie im Kaufleuten Gedichte vorträgt, obwohl Publikumsgäste die Performance merfach stören, und nennt sie eine “Heldin Dadas”.
Nach ihren Zürcher Jahren und einem mehrjährigen Aufenthalt auf Capri lässt Katja Wulff sich 1923 in Basel nieder. Dafür entscheidet sie sich, weil es in anderen Schweizer Städten bereits Schulen für den freien Tanz gibt. In Basel ist dieses Feld noch unbestellt. Schnell sind sie und ihre Schule hier etabliert und ist sie bestens vernetzt mit der hiesigen Kunstszene. Sie und ihr Partner Charles Ferdinand Vaucher sind Stammgäste im Club 33, dem Treffpunkt der Gruppe 33, einer antifaschistische Künstler*innenvereinigung, der unter anderem Max Sulzbachner, Meret Oppenheim und die beiden progressiven Architekten Paul Artaria und Hans Schmidt angehören. Mit einigen von ihnen setzt sie mehrere Tanzprojekte um.
Als berufstätige Frau an der SAFFA
Neben Aufführungen und Unterricht engagiert sich Wulff auch kulturpolitisch und setzt sich für die Verbreitung des freien Tanzes ein. 1928 nimmt sie an der SAFFA teil, der ersten Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit. Diese stellt die Leistungen der Frau in Familie, Arbeitswelt, Wissenschaft und Kunst in den Fokus. Auch Berufe aus den Bereichen Tanz, Rhythmik und Gymnastik sind vertreten. Was Wulff wohl von der riesigen Schnecke gehalten hat, die den SAFFA-Eröffnungsumzug der Frauen begleitete und sinnbildlich für das schleichende Vorankommen der politischen Rechte für Frauen in der Schweiz stand? In ihrem Geburtsland hätte sie diese Rechte bereits seit 1918 gehabt.
Ab Mitte der 1930er-Jahre überlässt Katja Wulf die Bühne ihren Schüler*innen und widmet sich fortan der Ausbildung und Organisation ihrer Projekte. Ein besonderes Augenmerk legt sie auf den Unterricht von Laien. Mit Maja Sacher hat sie eine prominente Unterstützerin für ihre Sache. An der Schweizerischen Landesausstellung 1939 ist sie schliesslich mit einer Tanzperformance vertreten. Als leidenschaftliche Pädagogin unterrichtet Katja Wulff noch bis ins hohe Alter.
Am 11. Juni 1992 stirbt sie im Alter von 102 Jahren. Eine Gedenktafel an der Augustinergasse 3 erinnert an sie und ihre Pionierrolle für den freien Tanz in Basel. In diesem Gebäude lebte und unterrichtete sie ab 1947.
Sie, die überzeugt davon war, dass wer tanze, mehr von sich spüre.
Quellen
Literatur
Simon Baur, hrsg. von Silvia Buol, Ausdruckstanz in der Schweiz. Anregungen, Einflüsse, Auswirkungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wilhelmshaven, 2010.
Amelie Soyka (Hg.), Tanzen und tanzen und nichts als tanzen. Tänzerinnen der Moderne von Josephine Baker bis Mary Wigman, Berlin 2004.
Mona De Weerdt und Andreas Schwab (Hg.), Monte Dada – Ausdruckstanz und Avantgarde, Bern 2018.
Bettina Zeugin, Katja Wulff, Basel 2001.
Abbildungen
Bild 1: SAPA, Sammlung Simon Baur. 2 tirages n&b (carte postale). Foto: Th. Hoffmann, 1927.
Bild 2: SIK-ISEA, Courtesy Fotostiftung Schweiz sowie Pro Litteris. Foto: Maria Netter, 1958.
Bild 3: Kunsthaus Zürich, Bibliothek. Foto: Johann Adam Meisenbach, 1914.
Bild 4: Foto: Nathalie Baumann, 2021.
Autor*in
Nathalie Baumann studierte Geschichte und Germanistik in Basel. Sie arbeitet als Öffentlichkeitsverantwortliche an der Universitätsbibliothek Basel und ist Co-Autorin von Band 9 der neuen Basler Stadtgeschichte. Im Projekt Stadt.Geschichte.Basel setzt sie sich insbesondere mit Vorstellungen von und Forderungen nach Freiraum auseinander. Auf Katja Wulff ist sie bei ihren Recherchen über Künstler*innengruppen in Basel nach dem Ersten Weltkrieg gestossen.