Der Teig, der niemals mürbe wird
Das Basler Patriziat ist das einzige der Schweiz, das einen Spitznamen besitzt, den fast alle kennen. Der Ausdruck “Daig” kommt in dem Moment auf, als die kulturelle Hegemonie der Altbürger den Zenit überschritten hat. Was aber “Daig” bedeutet, ist noch immer unklar.
Burckhardt, Sarasin, Merian, Vischer, …
Man könnte meinen, der Ausdruck sei toxisch, jedenfalls für Historiker und Historikerinnen. Zwar kommt “Daig” in der Online-Ausgabe des “Historischen Lexikons der Schweiz” ebenso vor wie in der Basler Stadtgeschichte aus dem Jahr 2000. Beide Male zeichnet der Historiker Philipp Sarasin als Autor. In seiner fulminanten Doktorarbeit “Stadt der Bürger” (zuerst 1990) hat er der dominanten Basler Bürgerschicht ein Denkmal gesetzt, indem er sie vom Sockel holte.
Die Burckhardt, Sarasin, Merian, Vischer, Christ und weitere Clans, die ab dem 17. Jahrhundert mit der Seidenbandindustrie reich wurden und nur untereinander heirateten, regierten den Stadtstaat bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fast allein – mit willkürlicher Fürsorge und wenig Demokratie. Nirgendwo sonst in der Schweiz blieb das Patriziat so lange an der Macht wie in Basel. Seine kulturelle Hegemonie, die sich im Kult des Geschichtlichen und Christlichen äusserte, dauerte noch länger, die ökonomische Potenz der altbürgerlichen Familien hält bis heute an.
Daig, Dalbe, Deich, Teichos?
Nur einmal schreibt Sarasin “Daig”: Obschon nicht wohlhabend, habe der Historiker Jacob Burckhardt im St. Alban-Quartier gewohnt, in der “Dalbe”, und damit zum Daig gehört, zum “gratin bâlois”. In der noch älteren Stadtgeschichte von 1986, die von der Christoph Merian Stiftung finanziert wurde, kommt der Ausdruck überhaupt nicht vor. Auch in anderen geschichtlichen Werken taucht er höchstens marginal auf. Eine begriffsgeschichtliche Erläuterung findet man nirgends.
Die Basler Stadtführer dagegen haben eine gewagte These aufgestellt: Daig stamme vom altgriechischen Wort “teichos” ab, das Wall und Stadtmauer bedeute. Im Mittelalter hätten die im St. Alban-Tal lebenden Ritter die Stadtmauer beschützt. Dort habe es auch einen “Deich” gegeben, einen Damm gegen Hochwasser. Daig habe also zunächst die ritterlichen Mauerbewohner, später die herrschenden Familien bezeichnet. Diese etymologische Geschichte, die fast bis in die Antike reicht, hat freilich einen Haken: Bis jetzt liegt kein einziger Quellenbeleg für sie vor.
Zusammenkleben und unter sich bleiben
Wahrscheinlich steckt im Daig ein Wortspiel. Einerseits spielt das Wort auf die Dalbe an, wo das Grossbürgertum noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts residierte. Kurz darauf flüchtete es vor der proletarisierten Innenstadt in das Gellert-Quartier, wo die Luft frischer war, nicht von der qualmenden Seidenband-Industrie verunreinigt. Andererseits dürfte Daig schlicht “Teig” bedeuten: Die so Bezeichneten kleben zusammen und bleiben zum eigenen Wohl unter sich. Laut dem “Idiotikon”, dem Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache, taucht das Wort in dieser Bedeutung erstmals zu Beginn des 20. Jahrhunderts in volkstümlichen Schriften auf: “Sie isch halt wirglig nit ganz vom Daig” – sie war wohl nur angeheiratet. Auch das Wörterbuch des Baseldeutschen geht davon aus, dass Daig Teig bedeute, sowohl in humoristischem als auch abwertendem Sinn.
Ab 1900 bröckelt die kulturelle Vormacht des einstigen Patriziats. Seine konservativen Vertreter wenden sich angewidert von all dem Neuen ab, das ihren geliebten Kleinstadtkosmos bedroht, von der “Moderne”, von Technik, Demokratie und Massenkultur. In diesem Moment kommt der Spitzname Daig in Umlauf: Spöttisch benennen die nicht-patrizischen Baslerinnen und Basler ein Milieu, das mit seinen altertümlichen Umgangsformen zunehmend die Welt von gestern repräsentiert.
Zugleich drückt das Dialektwort Zuneigung aus: Der Spitzname ist auch ein Kosewort. Irgendwie scheinen die Basler stolz auf ihre einstigen Herren zu sein und sich mit deren Distinktionsgebaren zu identifizieren. Die Besonderheiten des Daig machen fast alle Basler besonders. Nicht umsonst haben sie sich so lange von ihm regieren lassen. Der elitäre, reaktionäre Burckhardt wurde zum Stadtheiligen der Mittelschichten.
Damit alles gleichbleibt, muss alles sich ändern
1956 notiert Helen Vischer in ihrem feuilletonistischen Büchlein “Basel”, Dalbe und Daig seien aus der Mode gekommen, in Sprache und Gebräuchen suche man sich der neuen Zeit anzupassen. So werfe man die Verpflichtung über Bord, Elite zu sein, und damit die Bereitschaft, der Stadt zu dienen, sie zu führen und zu bewahren. Vischer, die Grossbürgerin, betrauert den Bedeutungsverlust des Daig. Den Ausdruck benutzt sie ganz selbstverständlich. Sie empfindet ihn nicht als anstössig, vielmehr gehört er für sie zur untergehenden Daig-Kultur.
Manches von dieser Kultur ist in der Tat am Verschwinden, etwa die ausgefeilten Rituale der Eheanbahnung, die nur eine Insiderin verstand, oder die seit dem 19. Jahrhundert gepflegten Stammbäume, deren Patrilinearität nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Der Daig aber lebt weiter. Vischer ist entgangen, dass seine geschäftigen Vertreter schon früh die Devise beherzigt haben, die der Fürst in Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman “Der Leopard” (1958) angesichts des Aufstiegs der gemeinen Bürger befolgt: Damit alles gleichbleibt, muss alles sich ändern. Oder wenigstens viel.
Quellen
Abbildungen
Abb. 1: Staatsarchiv Basel-Stadt, Stammbäume 53.
Abb. 2: Staatsarchiv Basel-Stadt, Stammbäume 171.
Autor*in
Urs Hafner ist freischaffender Historiker und Journalist in Bern. Für die neue Basler Stadtgeschichte schreibt er das Kapitel über den Daig (Bd. 6). Zuletzt hat er mit Tobias Ehrenbold “Stähelin, Staehelin, Stehelin. Eine Basler Familie seit 1520” (Christoph Merian Verlag) veröffentlicht.